Paul Wieghardt - Farbe und menschliche Gestalt von Vernon L. Geisel, Chicago
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Als Paul Wieghardt 1920 sein Studium begann,war die moderne Ära der Malerei bereits voll entfaltet. Fast gleichzeitig in Deutschland und Frankreich geboren, hatte sie das Kommen und Gehen vielfältiger Richtungen erlebt. Der deutsche Expressionismus, 1905 aus der Gründung der „Brücke" im Dresdner Polytechnischen Institut hervorgegangen, hatte die Phasen des „Blauen Reiters' und der „Neuen Sachlichkeit" hinter sich, und eine neue Bewegung, der Dadaismus, gewann Einfluss. In Frankreich, wo der Kubismus 1907 mit den „Demoiselles d'Avignon" von Picasso zu voller Blüte kam, brachte die Reaktion gegen Abstraktion noch eine andere Richtung hervor, den Surrealismus. Paul Wieghardt schloss sich keiner der vielen Stilrichtungen an, die während seiner Schaffenszeit kamen und gingen, und keine hatte wirklich entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung seines Werkes. Er wählte den Weg zu einer unabhängigen Entfaltung, der ihn über die akademische Schulung in traditionellen und avantgardistischen Disziplinen zu einer fortschreitenden Abstraktion führte, einer Ausdrucksweise, die lebendig und überzeugend ganz seine eigene war. Die gegenwärtige Retrospektiv-Ausstellung bringt erstmalig eine Zusammenfassung aller Phasen dieser eindrucksvollen Entwicklung. Sie zuerst in Lüdenscheid zu zeigen, ist nahe liegend, weil der Künstler hier vor 75 Jahren geboren wurde und hier seine ersten Anregungen empfing. Hier wurde auch 1932 seine erste Einzelausstellung gezeigt. Wieghardts immerwährendes Experiment mit den unerschöpflichen Möglichkeiten der Farbe macht die Betrachtung dieser Auswahl seiner Werke zu einem besonderen Genuss. Durch die Ausdruckskraft der Farbe nimmt der Beschauer teil an den physischen und metaphysischen Entdeckungsfahrten des Künstlers.
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Schon während seiner Schaffenszeit in Europa verriet Wieghardt durch die Wahl und Anwendung bestimmter Farben den Ort seines Schaffens, auch wenn der Bildinhalt nicht für die jeweilige Gegend charakteristisch war. Für die Bilder, die er in Deutschland malte, wählte er die Farben einer vollen, aber gedämpften Palette, die den Himmel und das Temperament dieser Landschaft so widerspiegeln, dass manche seiner Frühwerke an zeitgenössische Impressionisten erinnern. Hingegen scheint durch die Bilder von Paris das weichere, wärmere Licht, das diesem Milieu eigen ist, und ruft all die Empfindungen wach, die von dem Erhabensten und Gewöhnlichsten dieser einmaligen Stadt ausgelöst werden. Wieder eine neue Palette entdeckte Wieghardt in Spanien und Portugal. Entzückt von dieser Welt pastellfarbener Häuser vor pastellfarbenem Himmel, dem Kontrast von grellem Sonnenlicht und tiefem Schatten, beherrschte er das neue Idiom der Farbe mit der Geläufigkeit dessen, dem Spanisch oder Portugiesisch so vertraut ist wie die Muttersprache. In Norwegen fand er auf seiner Palette die Farben des nördlichen Lichts, erwärmt durch das Leuchten der Herbstfarben, aber auch gekühlt vom eisigen Hauch eines blaugrauen Winters. Seine Reaktion auf Farbe, in welcher Umgebung und Atmosphäre es auch sei, ist so untrüglich, dass man die Form eines Bildes verwischen könnte und doch mit Sicherheit wissen würde, wo sich der Künstler befand, als er das Bild malte. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens, in Amerika, verdichtete Wieghardt seine Sujets so stark auf den Kern der Aussage, dass seine Werke, obwohl hergeleitet von der Form wirklicher Dinge, doch nur die Gebilde seiner inneren Welt wiedergeben. Die Farbe wird zum bestimmenden Ausdruck der geistigen Sicht - manchmal wunderlich und leicht belustigt, gelegentlich auch melancholisch, meistens jedoch durchleuchtet von gütiger Heiterkeit.
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Wenngleich er seine direkten Eindrücke aus der Natur in Aquarellen und Gouachen festhält, sind diese spontanen Aufzeichnungen doch mehr und mehr nur Vorbereitungen für die feindurchdachten Gewebe aus Farbe, die die Gemälde seiner Reifezeit kennzeichnen. Zwischen Freiheit der Form und Freiheit der Farbe entwickelte sich eine direkte Verbindung, je mehr sich seine Sujets derAbstraktion nähern. Als er „Zenobia V Seven" malte, beschränkte er die Formen seiner Gegenstände auf die scharfen Umrisse plastischer Gestalten, und auch die Farbe wurde reduziert auf den Bereich der braunen und grauen Töne. Hingegen gehört „Lying Girl with Flowers" zu einer erlesenen Serie, in kurzer Folge gemalt, als dem Künstler fließende Formen und vibrierende Farben mit der Intensität einer ununterbrochenen Vision von der Palette fluteten. Das Zwillingsthema von Farbe und menschlicher Form zieht sich wie ein Leitfaden seiner Entwicklung durch Wieghardts gesamtes Werk. In der Substanz verbindet es seine ersten Arbeiten an der Kunstgewerbeschule mit dem letzten Bild, an dem er im November 1969 arbeitete. Wieghardts Kunst blieb immer gegenständlich, was bedeutet, dass ihr Ausgangspunkt in der sichtbaren Welt erkennbar blieb, trotz der fortschreitenden Abstraktion der Formen, die er wählte. Im Mittelpunkt stand die menschliche Gestalt: elegant und energisch, sinnlich und geheimnisvoll - das menschliche Sujet war für den Künstler eine Quelle nie endender Entdeckungen in jeder neuen Phase seiner schöpferischen Vision. Mit einem tiefen Gefühl für Vergänglichkeit malte Paul Wieghardt in der letzten Periode seines Schaffens die menschliche Gestalt als etwas geheimnisvoll Entgleitendes, als eine Erscheinung, die nur vage, tastend verschmilzt mit der sichtbaren Welt, die wir als Realität empfinden. |